Andreas Baesler ist ein Deutscher Opernregisseur der für die 2004 Gormenghast Produktion in Saarbrücken und Luxemburg Regie führte.
Andreas Baesler: Irmin, du warst mir immer als Musiker von Can ein Begriff, und tatsächlich habe ich euch in der Stadthalle Cuxhaven in den Siebzigern einmal gesehen, denn ich fand dich als Musiker immer faszinierend. Als ich hörte, dass du eine Oper komponiert hattest, wollte ich dich kennenlernen. In diesem Sinne war es eine wunderbare Duplizität, dass du mit „Gormenghast“ in das Theateruniversum eingetaucht bist, in dem ich mich schon lange bewegte. Schon bei unseren ersten Gesprächen haben wir dieselbe Sprache gesprochen, und ich merkte: Du bist auch ein Theatermensch. Als ich „Gormenghast“ dann schließlich in die Hände bekam und es auch genauer studieren konnte, war mir bald klar, dass dieses Stück keinem Genre klar zuordnen konnte. Es war weder eine reine Oper, noch war es ein Musical, und Rockmusik war es auch nicht. War es also eine Rockoper?
Irmin Schmidt: Vielleicht war es ja eine Pop-Oper.
Andreas Baesler: Genau diese Schwierigkeit machte „Gormenghast“ in meinen Augen aber erst so richtig interessant — auch musikalisch interessant. Denn gleich die erste Begegnung mit der Musik hat mich sofort fasziniert und hypnotisiert. Erst anschließend kam die Auseinandersetzung mit der literarischen Vorlage. Bald wurde mir bewusst, dass du dir da einen riesigen Berg aufgetürmt hattest — eine Berg, der jetzt zu besteigen war. Mich hat das Ganze natürlich auch herausgefordert, gerade diese Schwierigkeit, deine Komposition nicht eindeutig einem Genre oder einer Praxis zuordnen zu können, hat mich wirklich fasziniert. Mir war bald klar, dass die Herausforderung darin lag, einen eigenen Stil zu kreieren, der dem jenseits aller Erwartungen stehenden Material gerecht wird. Ein Stück wie „Gormenghast“ kann man eigentlich nicht in einem ganz normalen Stadttheater rahmen, es verbietet sich, es wie eine ‘normale’ Oper aufzuführen, weil einige Elemente, die Opern ausmachen, in ihm fehlen. Unser Veranstalter Joachim Arnold kam dann bald auf die ziemlich glückliche und geniale Idee, in das Weltkulturerbe in Völklingen zu gehen, und das war natürlich ein bombastischer Rahmen. Denn Völklingen war eine bereits vordefinierte Raumkonzeption, in der schon sehr viel Atmosphäre vorhanden war und wo sich die Musik ausbreiten konnte. Und von der Inszenierung her konnten wir mit sehr klaren und reduzierten Mitteln ein Höchstmaß an Bühnenwirksamkeit erreichen.
Irmin Schmidt: Ja das hat mich ja ebenfalls so fasziniert. Die erste Inszenierung fand tatsächlich im Rahmen eines ganz normalen Stadttheaters statt, war auch sehr aufwendig in der Ausstattung. Und dann hast du eigentlich mit ganz wenig Mitteln ganz viel erreicht, da hat natürlich auch der raum viel ausgemacht, aber ich glaube, deine Inszenierung wäre in einem anderen Raum ebenso wirkungsvoll gewesen. Ich will, dass es verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten gibt, und das haben die beiden Aufführungen bestens eingelöst. Ich habe mir „Gormenghast“ nicht zuletzt so vorgestellt, dass man es auch als ‘Kabuki-Theater’ aufführen könnte, dass also Schauspieler die Protagonisten nur mimen — und die Sänger stehen nebenan und singen, also auf Japanisch. Das finde ich bis heute eine sehr gute Idee, und ich bin mir sicher, dass es auch funktionieren würde. Am meisten hat mich an den beiden Inszenierungen fasziniert, dass sie so grundverschieden waren und doch beide formidabel funktionierten.
Andreas Baesler: Das hat natürlich auch was mit der großen, sehr offenen Form des Stückes zu tun. Und zwar sowohl musikalisch, wie auch räumlich. Die Reduktion auf ein Streichquartett und den Surround-Sound hat natürlich den Vorteil, dass einem Regisseur oder Bühnenbildner keine Grenzen gesetzt sind. Man könnte „Gormenghast“ theoretisch auf einer Waldlichtung oder auf einem Berg aufführen, ist gar nicht unbedingt an eine Opernbühne gebunden — und das ist der ganz große Reiz daran. Und was die dramaturgische Form angeht, so hat „Gormenghast“ eine sehr offene Form, die keine Bebilderung im klassischen Sinn verlangt um es zu verstehen. Das Stück kann sehr assoziativ funktionieren und ist ja auch in punkto Dramaturgie eher von Rockopern oder Konzeptalben der Rockmusik beeinflusst. Du hast die Welten genial verschmolzen. Du besitzt genug Theaterinstinkt um zu wissen, was die Bühne braucht. Viele sogenannte Rockopern oder Konzeptalben scheitern in ihrer theatralischen Darbietungsmöglichkeit ja daran, dass sich ihre Schöpfer nie wirklich konkrete Gedanken über eine szenische Realisierbarkeit gemacht haben. In deinem „Gormenghast“ ist der formale Aspekt eines Musiktheaters aber von Anfang an mitgedacht — es lässt auch viel Freiheit in der Assoziierbarkeit der Figuren und auch der Szenen zu. Schlussendlich sind das alles Aspekte, die es einem Regisseur erlaube, einfacher mit dem Stück umzugehen und sich darin ästhetisch zu bewegen. Es gibt bereits zwei szenische Inszenierungen von „Gormenghast“. Du brachtest die Kabuki-Variante ins Spiel — und ich wiederum könnte mir den Stoff auch als „Holiday on Ice“ vorstellen.
Irmin Schmidt: Ich habe in meiner Präambel zum Stück ja auch geschrieben, dass sie alle tanzen, dass „Gormenghast“ Tanztheater ist, dass getanzt wird und die Sänger danebenstehen. Egal, in welcher Form oder Fassung man das Stück aufführt — es bleibt verständlich, weil seine Figuren so präzise sind. Das sind einfach alles ausgearbeitete Charaktere, und jeder hat seinen eigenen Stil, man kann die Augen zu machen und man weiß trotzdem immer ganz genau, wann Steerpike, wann Prunesquallor oder Barquentine singt, denn jeder singt immer nur in seinem eigenen Stil, und das hat in den beiden Inszenierungen bisher wunderbar funktioniert. Da gibt es eine Dramaturgie allein schon über die musikalische Charakterisierung der Figuren.
Andreas Baesler: Das stimmt. Über die unterschiedlichen Stile, die aufeinanderprallen, vom klassischen Koloraturgesang bis hin zum klassischen Rockgesang ist die Spannbreite total weit. Die Arie des Grafen etwa geht in den Bereich des Kunstlieds hinein.
Irmin Schmidt: Und genau das war ja auch meine Absicht.
Andreas Baesler: Einerseits gibt es so viele unterschiedliche Stilmittel. Andererseits ist es dir irgendwie gelungen, alles zu einer Einheit zu verschmelzen. Wenn man „Gormenghast“ zum ersten Mal hört, hört man ein Mischmasch, ein Konglomerat oder eine Collage. Gleichzeitig hat das Werk vom ersten bis zum letzten Ton eine ungeheure Homogenität. Das hängt natürlich auch mit dem Sounddesign zusammen, das dem Ganzen in einen akustischen Rahmen fasst, der Oper eine eigene Klangwelt stiftet. Für mich ist diese spezifische Klangwelt unheimlich wichtig gewesen, weil sie der visuellen Welt ein Kontra bietet. Deine Klangarchitektur lässt die Bilder vor meinem inneren Auge entstehen. Und auch die Videos, die wir damals vor unserer Inszenierung gemacht haben, versuchten ja genau diese Architektur des Klanges sichtbar zu machen, ohne sie zu übertünchen oder überdecken. Wenn ich heute an „Gormenghast“ denke, sehe ich komischerweise keine Bilder vor mir, so wie ich das normalerweise tue, obwohl ich mir natürlich die Figuren in Erinnerung rufen kann und ihre Kostüme und diese Bühne. Aber das eigentliche Gefühl für „Gormenghast“ führt zu einem klangraum, einer Klangarchitektur, die das Schloss Gormenghast zu einem Schloss aus Klang macht. Das ist das Geheimnis von „Gormenghast“, und deswegen bin ich auch ein solcher Fan von dieser Oper. Unabhängig davon verbinde ich natürlich schöne Erinnerungen an die eigene Inszenierung. Vor allem aber hat mich „Gormenghast“ von Anfang an musikalisch gefesselt, und das schließt auch diese Spannung ein, die über die Dauer der Oper musikalisch langsam aufgebaut wird. Und all das sind bewährte Ingredenzien der Opernmusik. Du hast also mit deinem Werk die Traditionen von Opernkompositionen weder negiert noch ignoriert, sondern du hast sie neu und anders definiert. Von daher würde ich „Gormenghst“ durchaus als romantische Oper durchgehen lassen.
Irmin Schmidt: Aber unbedingt!
Andreas Baesler: In diesem Sinne erinnert dein „Gormenghast“ an eine romantische Oper, also beispielsweise den „Freischütz“ — wenngleich bei dir mit ganz anderen Mitteln musiziert wird.
Irmin Schmidt: Du hast eben ein Schlüsselwort, nämlich das der „Collage“ verwendet, und dass „Gormenghast“ trotz seiner vielen verschiedenen Motive und Stile trotzdem eine Klangästhetik hat, die alles homogenisiert. Das gibt es auch in der bildenden Kunst: Da gibt es Collagen, aber gut sind sie nur, wenn sie auch zu einem Bild werde. Du kannst Zeitungsausschnitte collagieren, einen Kübel Farbe drüber ausgießen, und außerdem noch ein paar Holzplanken draufnageln. Dann hast du eine Collage aus sehr disparaten Bestandteilen. Zu einem Bild wird es aber nur, wenn es eine eigene Dramaturgie hat, eine eigene Architektur.
Andreas Baesler: Sich aus mehreren musikalischen Stilen zu bedienen birgt die Gefahr, dass alles zu einem beliebigen Potpourri wird, wenn man nicht einen durchgehenden Faden findet.
Irmin Schmidt: Davor hatte ich natürlich angst. Du arbeitest an den einzelnen Arien — an jeder in einem ganz anderer Stil — und fragst dich, wie das alles zusammen halten soll. Und natürlich gibt es da musikalische Bezüge zwischen den Arien, es gibt einen ganz definierten harmonischen Zusammenhalt, der durch die ganze Oper reicht. Da gibt es beispielsweise diese vier Akkorde, die im Tritonus-Intervall zueinander stehen — zwei Dur-Akkorde und zwei in Moll — und die immer wieder auftauchen, in jedem Stil aber stets anders angewandt werden. Diese Intervalle oder Akkorde hört man nicht unbedingt bewusst, aber unbewusst spürt man, dass alles zusammen gehört, miteinander verfugt ist. Und das ist, wenn man so will, das Geheimnis meiner Collage namens „Gormenghast“. Und deshalb fällt diese Oper auch nicht auseinander. In diesem Sinne hat die Musik eine Wucht und einen Zusammenhalt, wie man es von Bildcollagen von Robert Rauschenberg kennt oder von Kurt Schwitters. Das sind nicht nur Collagen, sondern eben auch richtige Bilder! Und jedes einzelne wird von einer unsichtbaren Anziehungskraft zusammengehalten.
Andreas Baesler: Diese Anziehungskraft, wie du es nennst, mündet in einer Einheitlichkeit, und die ist ganz wichtig und macht auch die Qualität des Werks aus, denn nichts ist hier beliebig.
Irmin Schmidt: Mir fällt eh nix weiter zu diesem Thema ein, schließlich habe ich alles, was es zu „Gormenghast“ zu sagen gibt, einfließen lassen in die Oper. Und du hast eine schöne Inszenierung daraus gemacht.
Andreas Baesler: Es war auch interessant, wie die Sänger mit dem Stoff umgegangen sind, wie sie zum Teil auch damit gekämpft haben und auch über die Komplexität der Anforderungen geflucht haben, die an sie gestellt wurden. Andere wiederum, wie unser Freund Stefan Vinzberg, sind geradezu lebenslang süchtig geworden nach diesen Arien, weil er diese Musik so für sich hat entdecken und dann personalisieren können. Ich glaube ja, dass deine Musik keinen der Interpreten kalt gelassen hat.
Irmin Schmidt: Mich hat es berührt zu sehen, wie die Sänger ihre Vorurteile nicht bestätigt bekamen. Sie hatten Angst, dass ihre Partituren ‘maschinell’ waren, und dann haben sie gemerkt, dass sie im Gegenteil ganz frei sind. Diese seltsame Mischung aus Disziplin und Freiheit habe ich aber von Anfang an so angelegt gehabt.
Andreas Baesler: Es gibt nicht viele Beispiele, die man mit „Gormenghast“ vergleichen kann. Neulich aber habe ich eine Inszenierung der „Zauberflöte“ von Barrie Kosky in Berlin gesehen. Da war das Bühnenbild im Grunde wie ein Kinofilm, in welchem die Sänger live auf der Bühne agieren, sie sind also lebendige Teile einer Film Collage, die auf große Leinwände projiziert wird. Und das war auch alles ‘maschinell’ und sekundengenau getimed. Jeder Schnitt im Film und jede Bewegung auf der Bühne musste musikalisch perfekt synchronisiert sein. Ich erinnere mich noch, dass alle gesagt haben: Das kann ja gar nicht funktionieren! Aber das Resultat war eine extrem faszinierende und auch sehr lebendige „Zauberflöte“. Es war zudem der Beweis, dass der Kern eines gelungenen Vortrags nicht zwangsläufig darin besteht, dass man das Tempo immer wieder neu erfindet.
Irmin Schmidt: Nein, absolut nicht, das muss nicht sein. Das Seltsame ist ja, dass es immer zwei Seiten eines Tempos gibt. Es gibt das Tempo der Maschine — bei „Gormenghast“ ist es eine Taktvorgabe aus dem Computer, und bei der Berliner „Zauberflöte“ war es die Taktvorgabe des Filmschnitts —, die das Zeitmaß als absolut unveränderbar diktiert. Und trotzdem, oder gerade wegen dieses rigiden Korsetts, findet jeder einzelne von den Sängern zu diesem Korsett ein eigenes, sein eigenes Körpertempo, ein eigenes Atemtempo, was die Sache dann umso spannender und lebendiger macht. Tempo ist nicht gleich Tempo. Und ebenso, wie es eine Körpersprache gibt, gibt es auch eine Atemsprache. Und obwohl es ein unkorrumpierbares, unveränderbares Tempo gibt, ist die Phrasierung nicht unbedingt festgelegt. Alle Sänger können stets unterschiedlich phrasieren, und bereits dadurch wird das Tempo ganz anders belebt und beseelt.
Andreas Baesler: Das ist im Grunde so ein bisschen wie Wellenreiten: Du erwischst die Welle, und dann trägt sie dich in ihrem Tempo, aber du lenkst die natürlich, du lenkst dich auf der Welle, dem Rhythmus, dem Tempo entsprechend deiner Möglichkeiten. Und für einen klassischen Opernsänger ist eine solche Erfahrung natürlich ein einmaliges Erlebnis, weil sie so etwas in der Regel vorher noch nie gemacht haben.
Irmin Schmidt: Die Vorgabe des Tempos bedeutet eben auch, dass nur, weil der Kapellmeister Krach mit seiner Frau hatte, das Tempo an einem Abend schneller gefahren werden kann — oder aufgrund eines Hangovers heute langsamer ausfällt. Nein, bei „Gormenthast“ kann man sich drauf verlassen, dass die Oper jeden Abend im exakt selben Tempo aufgeführt wird. Das ist ja auch nicht zuletzt das Geheimnis vom Groove: Je präziser der Groove, desto freier ist er. Da brauchen wir uns nur eine x-beliebige Platte von James Brown anzuhören.
Andreas Baesler: Oder von Can.
Irmin Schmidt: Genau.